Fein gekleidet, stolz – und unsichtbar arm

Björn Bracher, Peter Zilles, Elke Kaufmann und Thomas Lichteneber (v. links) tauschten sich zum Thema Armut aus.
Bildrechte Andrea Pitsch (Hersbrucker Zeitung)
Es ist eine Entwicklung, die sich seit Jahren bemerkbar macht: Die Armut in Deutschland steigt – Vor allem Senioren sind nach Lebensleistung davon bedroht Während die oberen zehn Prozent der deutschen Gesellschaft immer reicher werden, steigt gerade bei Frauen, Senioren, Alleinerziehenden und Menschen mit körperlichen Einschränkungen das Risiko, in Armut zu geraten.

"16 Prozent der Deutschen sind von Armut bedroht", sagt Elke Kaufmann. Kaum vorstellbar, wenn man so um sich blickt. Der Grund ist einfach: Die Armut ist kaum sichtbar – aus Scham. Wie bei einer 74-jährigen Dame. "Fein gekleidet" hat die Geschäftsführerin und Vorständin des Diakonischen Werks Altdorf-Neumarkt-Hersbruck sie in Erinnerung. Doch sie lebt von Grundsicherung, ist schwerbehindert. Private Absicherung – Fehlanzeige.

Im Lebenslauf finden sich Jobs als Putzfrau und Kassiererin. Das Geld für Notwendiges wie Corona-Test, Sturzvorsorge-Kurse oder Teilhabe an der Gesellschaft fehlt: "Das sind so einfache Sachen wie einen Kaffee trinken gehen." Würde die Impfpflicht kommen und sich diese Seniorin weigern, sie könne nicht mal das Bußgeld zahlen.

"Das ist ein typisches Fallbeispiel", erklärt Kaufmann. Denn darin steckt bereits ein Teil verschiedener Risikofaktoren: Schwerbehinderung, Arbeitslosigkeit und weibliches Geschlecht. "Frauen sind häufig alleinerziehend und arbeiten im Niedriglohnsektor", führt Kaufmann aus, "gerade Corona hat unter anderem mit Homeschooling die Lage noch einmal verschärft". Die soziale Ungleichheit wachse aber schon länger, weiß Kaufmann: "Die obersten zehn Prozent verdienen immer mehr."

Im Gegensatz dazu wachse jedes fünfte bis sechste Kind in der Bundesrepublik in Armut auf, fügt Peter Zilles, Vorsitzender der Tafel Bayern, an. Die existenzielle Armut beträfe tatsächlich nur einen relativ geringen Teil der Bevölkerung, aber "die gefühlte Armut ist sehr groß", stimmt er Kaufmann zu. Beispiel Inflation: Die Kosten für Sprit und Heizen schnellen nach oben. "Das ist existenzbedrohend in einem Hartz IV-Haushalt." Da säßen die Leute dann in fünf Decken gemummelt, weil sie die Heizung nicht aufdrehen könnten, weil sie sich die Nachzahlung nicht leisten könnten.

Und wer sieht das? Keiner. "Nicht jeder Betroffene hat einen Stempel 'arm"'auf der Stirn", macht Zilles klar. Im Gegenteil: Er bestätigt, dass arme Menschen vor allem in kleinen Städten und Dörfern im Straßenbild kaum auffallen. Anders als in der Großstadt, in der auch Obdachlose zum Bild gehören können. "Das deutsche Mütterlein am Land kommt nicht zu uns, weil es da ja gesehen werden könnte", erläutert Zilles, "der Zugezogene, den keiner kennt, der schon".

Scham als Schlüssel

Dieses Verhalten kennt Björn Bracher, Bereichsleitung Soziale Dienste bei der Diakonie, nur zu gut von den Beratungsstrukturen. "Keiner gibt gerne zu, dass er arm ist." Zu diesem "Schlüsselbegriff Scham", wie es Pfarrer Thomas Lichteneber nennt, kommt noch ein zweiter dazu: Stolz. "Für viele wäre es das Schlimmste, zum Pfarrer zu gehen und zu sagen, dass man kein Geld hat." Da würde mancher beispielsweise sein Kind gar nicht zur Konfirmation schicken – obwohl die Eltern für die anfallenden Beträge auch Nachlass oder Ratenzahlung beantragen könnten. "Von 40 Kindern mit Familien sind zehn von Armut betroffen", denkt er.

Doch nicht nur Familien sind zu stolz, sich Hilfe zu suchen – auch Ältere. So hat Zilles eine Seniorin in Bayreuth erlebt, die klipp und klar sagte: "Nein, zum Amt gehe ich nicht und zur Tafel auch nicht." Lieber fischen diese Menschen heimlich im Müll der Tafel – wie eine Nachbarin der dortigen Ausgabestelle. Zilles bekräftigt: "Wenn es nichts zum Essen zu finden gibt, dann bei uns. Alles, was genießbar ist, geben wir an die Kunden aus."

Zilles prognostiziert, dass sich besonders die Altersarmut verschärfen wird. Wegen der Corona-Pandemie kämen aktuell viele Leute, denen die Jobs in Gastronomie und Eventbranche wegbrechen. "Sie werden mit ihren Minijobs später mal keine auskömmliche Rente haben." Diesen Eindruck teilt Bracher. Seit Oktober 2021 hätten die Schuldnerberatungen bei der Caritas Neumarkt enorm zugenommen, "weil die Leute wegen Ausstellung oder Kurzarbeit nicht mal mehr ihren Strom zahlen können".

Wer keine durchgängige Arbeitsbiografie habe, der habe mit der daraus resultierenden Rente keine Chance, sind sich die vier einig. Plus: "Es gibt keine Zinsen mehr, private Vorsorge fehlt und das Rentenniveau wird in zehn bis 15 Jahren weiter absinken", malt Zilles ein düsteres Bild. Jeder über 60 Jahre, der sich derzeit bei der Tafel anmeldet, wird bleiben, ist er sich sicher: "Alt und arm – und das nach einer Lebensleistung." Zilles verdeutlicht das mit dem Zitat eines Mannes bei der Registrierung bei der Tafel: "Jetzt bin ich ganz unten angekommen."

Und das meist allein. "Armut ist nicht nur ein finanzielles Problem", ist Zilles überzeugt. Es mache einsam. "Die Betroffenen haben keine Wohnung, in der sie Gäste empfangen können oder wollen und zugleich kein Geld fürs Café." Diese Einsamkeit sei in der anonymen Stadt schlimmer, wirft Bracher ein. "Auf dem Land achtet man mehr aufeinander und bindet vor allem die Kinder mehr ein."

Beobachtet werde die Armutsentwicklung schon lange, sagen Bracher und Zilles. Doch warum tue sich nichts? Weil es ein Tabu-Thema ist? "Nein, ich vermute eher, dass die Politik das so lange vor sich hergeschoben hat, dass der Berg jetzt so groß ist, dass keiner weiß, wo er anfangen soll", versucht sich Zilles an einer Erklärung. Ideen und Angebote im Kleinen gebe es schon.

Da fallen dem Quartett diverse Gutscheinsysteme ein, der "Kulturbeutel" der Diakonie für Teilhabe an der Gemeinschaft, Hilfestellung bei Anträgen und Existenzsicherung, Sozialberatung – "Letzteres sind die größten Themen in der kirchlichen allgemeinen Sozialarbeit", so Bracher – und die Tafel. Allein dass es sie gibt, beweise, dass Armut da ist, betont Zilles: "Bei uns können sich die Betroffenen beim Einkauf ein bisschen Geld für was Besonderes sparen – wie einen Schwimmbadbesuch der Kinder."

Angst vor Stigma

Für diese fordert die Diakonie laut Kaufmann eine Grundsicherung einzuführen. Kontoführungsgebühren sollten für Betroffene wegfallen und sie sollten einen Corona-Bonus von 100 Euro erhalten. "Während des Homeschoolings zum Beispiel mussten Kinder, die sonst in der Mensa essen, daheim versorgt werden", begründet Kaufmann den Vorschlag. Auch Fonds direkt an den Schulen, gespeist aus dem Teilhabe-Paket des Landkreises, könnten helfen, weil der Zugang direkter ablaufen könnte. "Viele Eltern kommen mit dem Antrag nicht zurecht oder wollen die Stigmatisierung durch den Gang zum Landratsamt vermeiden", berichtet Kaufmann.

Die besten Voraussetzungen, nicht in Armut abzurutschen, sind Bildung, Gesundheit und eine Arbeitsstelle, erklären Bracher und Zilles übereinstimmend. "Das wichtigste Mittel gegen Armut ist es, die Menschen in eine sozialversicherungspflichtige Arbeit zu bringen." Und zwar nicht nur wegen des Geldes: Die Leute bekämen eine Tagesstruktur und ein neues Selbstwertgefühl. "Sie gehen aufrechter", beschreibt es Zilles. Das Gefühl der Nutzlosigkeit in der Leistungsgesellschaft verfliege. "Ohne Arbeit ist das sonst eine Spirale, aus der man von selbst kaum herauskommt."

Wenn aber entsprechende Fördermaßnahmen mit den Jobcentern oder der Bundesagentur für Arbeit wegfallen, "dann kommen wir gar nicht mehr an die Leute ran", mahnt Bracher. Dann entstünden vielleicht noch mehr Sozialhilfe-Dynastien, aus deren Existenz Zilles keinen Hehl macht. "Die sind clever, vernetzt und kreativ" – um überleben zu können. Dieser kleine Teil an Personen präge jedoch oftmals das Bild in der Öffentlichkeit. "Drückeberger, die selbst schuld sind", das hört Zilles immer wieder. Dass die Armut überwiegend unsichtbar ist, das wüssten viele nicht: "Wir müssen die Leute sensibilisieren." Und Lichteneber rät: "Einfach genau hinsehen und -hören."

Copyright (c) 2022 Verlag Nürnberger Presse, Ausgabe 08.03.2022