Treppauf treppab von Orgel zu Orgel

Matthias Grünert in Engelthal
Bildrechte Ute Scharrer (Hersbrucker Zeitung)

"Wir wollen die Frühlingsgefühle in Ihre Herzen bringen!", moderiert Dekan Tobias Schäfer seinen Freund aus Schülertagen an. Matthias Grünert, derzeit Kantor an der Dresdner Frauenkirche, löst ein, was Schäfer verspricht.

Denn: Die gelben Forsythienblüten vor der Pommelsbrunner Laurentiuskirche biegen sich unter der Last des Schnees, und in den kalten Kirchen ist der Heizstrahler für den Organisten meist die einzige Wärmequelle. Dem Witz, dass es mit dem Orgel-"Frühling" wohl nicht so geklappt hat, wächst langsam ein Bart. Aber egal.

Treppauf zur Orgel, treppab für den Schlussapplaus, treppauf für die Zugabe, Orgelschuhe an, Orgelschuhe aus, orgeln, orgeln, orgeln, dabei selbst umblättern, Noten neu sortieren und ab zum nächsten Spielort – der Orgelfrühling ist nichts für Sesselhocker. Matthias Grünert beglückt durch sein Spiel in Dresden nicht eine feste Gemeinde, sondern eher eine "Fangemeinde" an der imposanten Silbermann-Orgel über dem Altar.

Die Orgeln in den zehn Kirchen, durch die er am Wochenende tourt, kennt er nur per Name, Baujahr und Orgelbauer. Seine Programme sind auf die jeweiligen Instrumente abgestimmt: Für die 1912 gebaute Steinmeyer-Orgel in Pommelsbrunn wurden Stücke aus der Romantik ausgewählt, in der Bartholomäus-Kirche in Alfeld bringt Grünert Barockkompositionen zu Gehör, die nicht weiter vom düsteren Überschwang der Romantiker entfernt sein könnten als das luftige weiße Interieur in Pommelsbrunn von der knuffigen Dorfkirche Alfelds, die im Innern den Eindruck vermittelt, man säße im Bauch eines alten Segelschiffs.

Im Schlüsselkampf

Doch zunächst muss man in die Kirche hineinkommen. In Pommelsbrunn geht Tobias Schäfer, mit Hersbrucks Kantorin Heidi Brettschneider Mastermind hinter der Mini-Tournee und außerdem Chauffeur und Begrüßungskomitee, erst einmal auf Jagd nach dem Kirchenschlüssel und müht sich dann mit dem handtellerlangen Teil im historischen Schloss ab. Matthias Grünert eilt in jeder Kirche sofort die Treppen hinauf unters Dach und macht sich mit Instrumenten vertraut, die er nie zuvor gespielt hat.

"Halb so wild," winkt er ab, der Umfang an Möglichkeiten, die eine Dorfkirchenorgel biete, sei überschaubar. Jeder Orgelbauer arbeitete allerdings mit anderen Maßen, mal ist das Manual kaum mehr als eine Elle lang, dann wieder zweistöckig und die Tasten haben ebenso wie die Pedale leicht unterschiedliche Abmessungen. Also beginnt Mathias Grünert in den wenigen Minuten, bevor die Glocken zum Konzertbeginn läuten, mit Trockenübungen und spielt die vorgesehenen Stücke lautlos an.

Er mag es nicht, wenn die Kirchenbesucher schon Teile des Konzerts hören. So muss für ihn der erste Ton, den er erklingen lässt, stets überraschend sein. Ebenso die Leistungsfähigkeit seines Instruments. Bei den für die bombastischen Klänge gezogenen Registern der Fuga chromatica von Joseph Gabriel Rheinberger geht der Orgel in Pommelsbrunn doch fast ein bisschen die Puste aus.

Applaus aus den Bänken

Matthias Grünert hat für jede Kirche ein Programm gewählt, das eine Steigerung in Dramatik und Intensität enthält, darunter stets eine zarte Komposition voller Zwischentöne wie Robert Schumanns "Träumerei". Die Besucher in den so dicht wie möglich gefüllten Kirchenbänken danken es ihm mit begeistertem Applaus.

Manche folgen dem Musiker gleich an mehrere Spielorte, und stets sind die sonntäglichen Organisten und Organistinnen vor Ort, um zu hören, wie "ihr" Instrument unter den Händen des Großstadtkantors klingt. "Hoffentlich verwöhnen Sie mir die Leute nicht zu sehr", äußert Organist Richard Buchner aus Engelthal seine Bedenken.

Genau auf die Finger schaut Mathias Grünert dort auch ein weiterer Orgelenthusiast: Simon Giersch lässt gern mal Boogie-Woogie durch die Kirche schallen. Als Autodidakt kann sich der leidenschaftliche Gelegenheits-Orgler doch manches vom Profi abschauen.

Ab auf Youtube

Ebenfalls nicht nur zum Vergnügen ist Youtuber Justin aus Nürnberg angereist. Unter seinem Alias "Nürnberger Glockenfreund" können sich Kirchenglocken-Fanatiker auf seinen verschiedenen Plattformen Tonaufnahmen von Glocken aus dem Nürnberger Raum zu Gemüt führen. Den Orgelfrühling nutzt er, um sein Repertoire um neue Klänge zu ergänzen und sitzt mit einem kleinen, aber feinen Aufnahmegerät in den Konzerten.

Überhaupt Aufnahmen: In Engelthal hat sich ein Kameramann auf der Kanzel positioniert, um zwar aus der Ferne, dafür mit ungebrochener Sichtlinie das Spiel des Stargasts aufzuzeichnen. Und in jeder Kirche wartet am Ende die meist schon etwas betagtere Autorin des "Kirchenblättlas" auf eine Gelegenheit zum Fotoshoot per Smartphone.

So gut es nur geht wird der Ehrengast umsorgt, in Alfeld steht in echter Willkommenskultur gar ein Schirmträger bereit, um beim Gang ins Gemeindehaus zur schließlich auch einmal nötigen Pinkelpause vor dem Schneetreiben zu schützen. Pfarrerin Christiane Lutz lässt sich in Engelthal eine herzliche Begrüßung samt Kurzvita sowohl des in Nürnberg geborenen Musikers als auch ihrer Orgel nicht nehmen.

Und zwischen Kirche und Kirche kurvt Tobias Schäfer seinen Gast durch tief verschneite Täler und Wälder, wo äsende Rehe nur kurz den Kopf heben, als das Auto kurz die Stille stört. Matthias Grünert sendet seiner Tochter ein Foto des Winter-Wunderlands zwischen Alfeld und Engelthal. "Hej, Digger (Kumpel) wieso schneit's bei dir?" textet sie prompt zurück. Die Gespräche im Transportfahrzeug drehen sich, den Ausblicken folgend, um Wasserkraft versus Windräder, das Mobilfunknetz auf dem Land und ob die Wälder wohl pilzreich sind.

Die eine oder andere Entdeckung in den Kirchen nimmt Matthias Grünert gerne mit, wie den "Zimbelstern", ein kleines Extra, das eine Orgel aufweist. Oder den "Flüsterbogen" in der Kirche von Pommelsbrunn: Von zwei Stellen im Kirchenschiff hört der Organist selbst leise geführte Gespräche unten oben auf der Empore wie von Lautsprechern verstärkt.

Einen Flüsterbogen gibt es auch in der Kuppel der Frauenkirche in Dresden, verrät Grünert. Die Frage "Gehen wir nach dem Konzert auf ein Bier?" im Flüsterton erreicht dort das Gegenüber an der anderen Seite der Kuppel, als würde es ihm ins Ohr gewispert. Dass die Kirche, in der er häufig Orgel spielt, so eine faszinierende bauliche Besonderheit aufweist, war selbst Organist Jens Bremer neu.

Bei Kucha, zwischen Konzert Numero drei und Konzert Numero vier der fünf geplanten Auftritte dieses Tages zeigt der quirlige Kantor erste Schwächesymptome. "Ich weiß, andere Leute trinken um die Zeit Kaffee, aber mich würde ein Bier wieder auf die Beine bringen …", seufzt er. Jetzt lässt Dekan Tobias Schäfer die guten Beziehungen zu seinen Ortspfarreien spielen. Rasch eine Nummer auf dem Telefon-Display aufgerufen, und schon hat er Offenhausens Pfarrer Martin Hoepfner an der Strippe.

Ausschank auf Straße

Der zeigt sich der Bitte seines Vorgesetzten um ein kühles Bier mehr als gewachsen: Momente später steht er vor seinem Pfarrhaus am Straßenrand und kredenzt Matthias Grünert ein stilecht eingeschenktes Bier durchs Autofenster. Nicht irgendein Bier und nicht irgendein Glas, wohlgemerkt. Die "Kirchhof-Halbe" wird von der Bürgerbräu Hersbruck extra für gute Zwecke in Offenhausen gebraut. Und ins Glas ist eingraviert: "Wer kein Bier hat, hat nichts zu trinken – Martin Luther".

Matthias Grünert hat eine seiner Orgel-CDs aus seinem Bauchladen gefischt und reicht sie als kleine Gegengabe für die spontane Rettungsaktion durchs Fenster zurück. Und dann wird schon wieder aufs Gas gedrückt, nur Minuten sind es noch zum Konzertbeginn in Engelthal.

Diva unter den Orgeln

"Die heitere Königin" heißt Grünerts Programm dort, die "Königin der Instrumente", die Orgel, kann auch heiter und verbreitet zuweilen fast Kirmes-Stimmung im Gotteshaus. Zugabe ist der Marsch "Blaze away!" – "in Flammen aufgehen". Nichts derart Dramatisches geschieht, aber eine leise Nervosität vor dem nächsten Konzert gesteht Grünert doch ein: Die Orgel in der Johanniskirche in Lauf ist ihm von verschiedenen heimischen Organisten als kapriziös beschrieben worden.

Doch das ist es, was Grünert an den Orgeltouren, die er häufiger anbietet, so mag: "… sich mal den Orgeln widmen können, ganz ohne Bürokram". Dass dieser ungewöhnliche Zeitvertreib am Wochenende so vielen Musikfreunden echte Freude bereitet, war in allen Kirchen zu spüren.

Copyright (c) 2022 Verlag Nürnberger Presse, Ausgabe 06.04.2022

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Fotos: Ute Scharrer (Hersbrucker Zeitung)